Besorgniserregend sei das sinkende Leistungsniveau der Schulabsolventinnen und -absolventen, so Reichhold. „Das macht sich in der Ausbildung bemerkbar. Die Berufsschulen und besonders die Handwerksbetriebe selbst können diese Defizite aber nicht beheben.“ Deshalb fordere das Handwerk unter anderem, dass das Schulsystem in Baden-Württemberg gestärkt wird, längeres gemeinsames Lernen ermöglicht und der Übergang Schule – Beruf sowie die Berufsorientierung verbessert werden. „Auf den Anfang kommt es an. Wir müssen es wieder schaffen, dass jeder Viertklässler ordentlich lesen, schreiben und rechnen kann.“
Große Aufmerksamkeit bei der Kammer-Vollversammlung bekommt das gerade erst beschlossene Berufsvalidierungs- und -digitalisierungsgesetz (BVaDiG), dass die Fachkräftesicherung im Handwerk stärken wird. Denn es bietet der für Betriebe interessanten Zielgruppe von Erwachsenen ohne Ausbildung die Chance, dass ihre durch langjährige Tätigkeit im Handwerk erlangten beruflichen Kompetenzen anerkannt werden. Rainer Reichhold ergänzt: „Mit der nun verankerten Altersgrenze von 25 Jahren bleibt klar, dass eine Ausbildung weiter der beste und zügigste Weg ist, um ihre Karriere im Handwerk zu starten. Aber wir bekommen auch bessere Angebote für diejenigen, bei dem dieser erste Schritt nicht stattfand.“
Trotzdem sind sich die Teilnehmerinne und Teilnehmer der Vollversammlung einig: Damit die Umsetzung der Berufsvalidierung mit den ehrenamtlichen Prüferinnen und Prüfern ab dem kommenden Jahr gelingt, muss die Bundesregierung schnell aktiv werden und die Verfahrensordnung für die Berufsvalidierung vorlegen. „Vorbild sollten die Standards aus dem, auch in der Kammer Stuttgart, erfolgreich erprobten Validierungsverfahren im Projekt „ValiKom“ sein“, sagt Gastredner Volker Born, Abteilungsleiter Berufliche Bildung des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH).
Dass die Berufsbildung vor großen Herausforderungen steht, zeigen die Zahlen: 2023 blieben hunderte Lehrstellen allein in der Region Stuttgart unbesetzt. Um für das Handwerk Nachwuchs und qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen, richten sich deshalb die Anstrengungen der Handwerkskammer sowie der Betriebe vermehrt ins Ausland, beispielsweise nach Indien oder ins Kosovo. Doch ohne deutsche Berufsausbildung ist es oft schwer, in Deutschland einen Arbeitsplatz zu finden. Für Menschen, die ihre Ausbildung im Ausland abgeschlossen haben, ist es deshalb wichtig, ihre beruflichen Kompetenzen durch ein Gleichwertigkeitsfeststellungsverfahren anerkennen lassen zu können.
Eng mit der Validierung und der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse verzahnt ist ein weiteres Instrument der Fachkräftegewinnung: Teilqualifizierungen. Sie bieten individuell flexible Chancen für Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen und bauen auf bestehenden Qualifikationen auf. Gastredner Thomas Bürkle, Vizepräsident des Zentralverbandes der Deutschen Elektro- und Informationstechnischen Handwerke (ZVEH) zeigt die Vorteile dieses Verfahrens auf: „Teilqualifikationen sind die konsequente Weiterentwicklung von Umschulungen, aber direkt im eigenen Betrieb mit der Möglichkeit einer Externenprüfung als vollwertigem Abschluss, nachdem alle Module durchlaufen wurden.“
Sowohl die Teilqualifizierung als auch die Berufsvalidierung haben laut Bürkle einen entscheidenden Vorteil: „Bei beiden Lösungen haben wir, das Handwerk, über Kammern und Verbände den Einfluss, dass die Qualität der Facharbeiter immer durch entsprechende Prüfungen bei der Teilqualifizierung sowie der Validierung passt.“ Kammerpräsident Rainer Reichhold fasst zusammen: „Es gilt alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um Menschen, die im Handwerk beruflich weiterkommen oder eine Tätigkeit im Handwerk aufnehmen möchten, passgenau zu qualifizieren. Nur so kann das Handwerk als „Wirtschaftsmacht von nebenan“ sein Potenzial entfalten. Dafür sind aber auch klare politischen Rahmenbedingungen notwendig.“
Welche weiteren Forderungen das Handwerk unter anderem zu den Themen Bürokratiebelastung, Schwarzarbeit oder Fachkräfterekrutierung stellt, kann im handwerkspolitischen Bericht nachgelesen werden: www.hwk-stuttgart.de/hwpb2024
Hintergrundinformationen:
Die ehrenamtlich tätige Vollversammlung ist das oberste Entscheidungsorgan der Handwerkskammer. Sie wird alle fünf Jahre von den Mitgliedern gewählt. Sie setzt sich aus 39 Delegierten zusammen, 13 sind Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitnehmergruppe, 26 Mitgliederinnen und Mitglieder vertreten das selbstständige Handwerk und das handwerksähnliche Gewerbe. Sie bestimmen maßgeblich die Grundsatzentscheidungen der Handwerkskammer und üben das Budgetrecht aus. Im Einzelnen entscheidet die Vollversammlung unter anderem über den Haushaltsplan, die Haushaltssatzung, die Grundbeiträge und den Umlagesatz. Außerdem wählt die Vollversammlung aus ihrer Mitte den Präsidenten, die Vizepräsidenten, den Vorstand und die Ausschussmitglieder.
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