Einblicke zu Ödemen in verschiedenen Lebensphasen
I. Kindheit
Der Humangenetiker und Arzt Dr. rer. nat. Dr. med. René Hägerling, Berlin, eröffnete das Vortragsprogramm. Als Einstieg in die Phase der Kindheit widmete sich sein Vortrag den genetischen Grundlagen hereditärer Lymphödeme und Lymphgefäßmalformationen. Neben defekten Lymphgefäßklappen und einem disruptierten Lymphgefäßnetzwerk gäbe es noch viele weitere mögliche Ursachen lymphatischer Dysfunktionen. Darum sei es aus genetischer Sicht wichtig, in verschiedene Lymphödeme zu unterteilen. Weiterhin erläuterte Dr. Hägerling, es gäbe 46 Chromosomen und 23.000 Gene. Die Suche nach der Ursache für eine genetische Veranlagung gleiche also bildlich gesprochen dem Durchforsten von 46 Bücherregalen mit je 23.000 Büchern auf der Suche nach einem einzelnen Tippfehler. Um die jeweilige Unterform des Lymphödems zu finden, nutze man die gegenwärtige Klassifikation nach Cornell et al. Genetische Diagnostik komme zum Beispiel im Rahmen eines Kinderwunsches, pränataler Diagnostik und der Zusammenstellung einer geeigneten Therapie zum Einsatz.
Über die Behandlung von Kindern mit lymphatischen Malformationen sprach der Internist und Angiologe Prim. Dr. med. Christian Ure, Wolfsberg, Österreich. Nach ISSVA würden vaskuläre Anomalien in die drei Gruppen vaskuläre Tumore, vaskuläre Malformationen und komplexe kombinierte vaskuläre Malformationen unterteilt. Fast 90 % der Lymphödeme hätten sekundäre Ursachen und nur etwa 10 % seien primär. Über 70 % beträfen die unteren Extremitäten. Anamnese, Inspektion und Palpation seien die Grundlage für eine Diagnose. In der OMIM-Datenbank seien neun häufige Ursachen vermerkt, bei denen man die Gen-Loki kenne. Dabei würden hereditäre Lymphödeme mit einer Q-Nummer und spontane Mutationen wie andere sekundäre Lymphödeme mit einer I-Nummer gekennzeichnet. Abschließend betonte Dr. Ure die Relevanz der Schulung der Angehörigen und Behandelten für eine erfolgreiche Therapie.
Die Besonderheiten der Komplexen Physikalischen Entstauungstherapie (KPE) bei Kindern schilderte Dr. med. Markus Killinger, Angerberg, Österreich. Nach wie vor sei es die erste Hürde, schnell die richtige Diagnose zu bekommen. Um die verschiedensten Beeinträchtigungen abzudecken, müsse passend zur Erkrankung ein interdisziplinäres Team zusammengestellt werden. Auch die psychosoziale Unterstützung und eine altersgerechte Wissensvermittlung gewännen zunehmend an Bedeutung. Als positives Beispiel erwähnte Dr. Killinger das Kinderbuch „The Big Book of Lymphoedema“, das bislang leider nur als englischsprachige Fassung verfügbar sei. Bandagiert werde ab dem dritten Lebensjahr. Durch die kleinen Umfänge sei eine gute Unterpolsterung wichtig. Im Rahmen der U-Untersuchungen sei insbesondere auch auf Anzeichen eines Syndroms, Entwicklungsverzögerungen und orthopädische Problematiken zu achten.
Mit seinem Vortrag leitete Prof. Dr. med. Andreas Müller, Bonn, von der konservativen zur medikamentösen Therapie von lymphatischen Malformationen bei Kindern über. Das relativ neue Gebiet der medikamentösen Therapie schaffe neue Möglichkeiten. Dabei könnten Mutationen, die zu einer Überfunktion des Stoffwechselweges führen würden, durch Medikamente blockiert werden. Im Fall eines Kindes, dem pränatal eine massive lymphatische Malformation diagnostiziert worden sei, hätten die Malformationen unter dem Immunsuppressivum Sirolimus signifikant abgenommen. Das Kind sei inzwischen drei Jahre alt und bereits zwei Jahre nicht mehr medikamentiert, ohne dass ein Rezidiv aufgetreten sei. Abschließend resümierte Prof. Dr. Müller, dass noch viele Studien nötig seien, um die Wirksamkeit dieser Medikamente zu belegen.
Um den Bereich der Therapien zu komplettieren, widmete sich der Vortrag von Dr. med. Lisanne Grünherz, Zürich, den operativen Möglichkeiten bei lymphatischen Malformationen, die zukünftig auch bei Kindern zum Einsatz kommen könnten. Die rekonstruktive Lymphchirurgie habe zum Ziel, den Lymphabfluss wiederherzustellen. Die häufigste Technik sei die lymphovenöse Anastomose (LVA), bei der mikrochirurgisch eine neue Verbindung von einem Lymphgefäß zu einer Vene angelegt werde. Bei Kindern seien eine besonders strenge Indikationsstellung, ein interdisziplinäres Management und eine ausführliche präoperative Diagnostik erforderlich. Bei der operativen Behandlung von primären Lymphödemen im Kindesalter würde ein kombiniertes Verfahren aus Lymphknotentransfer (VLNT) und LVA bevorzugt.
II. Adoleszenz
Über seine Erfahrungen rund um das Lipödem bei Teenagern berichtete Dr. med. Stefan Emmes, Nesttun, Norwegen. Der Facharzt für plastische Chirurgie habe bereits 600 Lipödem-Operationen durchgeführt. Das Lipödem sei aller Wahrscheinlichkeit nach hormonell induziert und trete daher erst in der Pubertät oder anlässlich einer anderen hormonellen Veränderung wie Schwangerschaft, Hormonbehandlung oder der Einnahme der Pille auf. Eine Problematik beim Lipödem sei, dass es nach wie vor keine verlässlichen Marker wie Blut- oder Gentests gebe. Eine Operation sei bei gesicherter Diagnose dennoch eine Option. Denn Studien würden belegen, dass die Ergebnisse der operativen Therapie besser seien, je eher diese begonnen würde.
In ihrem Vortrag „Wenn ,Ess-Kapaden´ ins Gewicht fallen“ beleuchtete die Psychotherapeutin Gabriele Erbacher, Hinterzarten, die Zusammenhänge von Essverhalten und Lymphödemen. Eine kanadische Studie zeige, dass adipositasinduzierte Ödeme bei den Lymphödemen den Hauptanteil ausmachen. Das Gehirn sei so programmiert, dass Essen bei Problemen helfe, was Essstörungen begünstige. Gerade bei jungen Mädchen würde die Waage häufig zum Messinstrument für den Selbstwert. Ihr Fazit: Essanfälle seien Lösungsversuche der Psyche und gut zu behandeln.
III. Erwachsenenalter
Dr. med. Gabriele Faerber, Hamburg, sprach über hormonell bedingte Ödeme, wie Ödeme durch Steroidhormone, Endokrine Ödeme und das Lipödem. Bei idiopathischen Ödemen komme es häufig zu einer erhöhten Insulinkonzentration. Das könne wiederum zu Übergewicht und infolgedessen zu einer Verstärkung des Ödems führen. Eine Kombination mit dem Lipödem komme häufig vor. Die Einnahme von Diuretika führe zu einer Verschlimmerung über gegenregulatorische Mechanismen. In diesem Fall sei eine schrittweise Reduzierung notwendig, um einen Rebound zu verhindern.
Physiotherapeutin Karin Schiller-Moll, Aachen, beschäftigte sich mit dem Thema "Ödeme durch Bewegungsmangel: Wie begegnen?". Zu Beginn rekapitulierte sie die Physiologie des Blutkreislaufes und die damit verbundenen Druckwerte innerhalb dieses Kreislaufes. Sie beschrieb, wie Muskel-/Gelenkpumpe, Atmung, Sogwirkung des Herzen und Pulsation benachbarter Arterien den venösen Rückfluss fördern würden. Wenn die Muskel-/Gelenkpumpe ausfalle, komme es zu einem Rückstau ins Kapillarbett. Durch den erhöhten Druck werde mehr filtriert und das Lymphsystem stärker gefordert. Sei das Lymphgefäßsystem an seinem Limit, spräche man von einer dynamischen Insuffizienz, die dauerhaft zu einer mechanischen Insuffizienz führen könne. Durch Bewegung ließe sich rechtzeitig gegensteuern.
Digital zugeschaltet war Prof. Dr. med. Thomas Dieterle, Hinterzarten, mit seinem Vortrag zu Ödemen durch Medikamente. Am Beispiel einer 65-jährigen Patientin mit verschiedensten Erkrankungen, die insgesamt zehn verschiedene Medikamente einnehme, beschrieb er, wie viele mögliche Ursachen das Ödem haben könne. Beim Lymphödem gebe es zahlreiche Komorbiditäten wie Arterielle Hypertonie, Herzinsuffizienz, Arthrosen, chronische Rückenschmerzen, generalisierte Angststörungen und viele mehr. 40 % der Bevölkerung nehmen mehr als fünf Medikamente und zahlreiche davon können ein peripheres Ödem verursachen und damit auch ein Lymphödem verschlechtern. Knapp 300 Substanzen seien untersucht, die die Kontraktion und Relaxation der Lymphgefäße beeinflussen würden. Hinsichtlich der Förderung von Ödemen seien Kalziumantagonisten, nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) und Glucocorticoide besonders im Auge zu behalten, so Prof. Dr. Dieterle.
Über Ödempatient*innen im Arbeitsalltag – Beurteilung von Erwerbsunfähigkeit und Schwerbehinderung informierte Dr. med. Jeanette Marell, Bad Nauheim. In der Versorgungsmedizinverordnung seien die einzelnen Erkrankungen und Einschränkungen mit den jeweiligen Prozentangaben zum Grad der Behinderung (GdB) geregelt. Bei der Beurteilung werde nur die Gesamteinschränkung berücksichtigt, Einschränkungen durch verschiedene Krankheitsbilder würden sich nicht aufsummieren. Ab 50 % GdB spreche man von einer Schwerbehinderung. Ein Lymphödem ohne wesentliche Funktionseinschränkung habe einen GdB von 0-10 %, ein Lymphödem mit stärkerer Umfangsvermehrung (größer als 3 cm) einen GdB von 20-40 %. Tritt eine Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit auf liegt der GdB bei 50-70 %, und ist die betroffene Gliedmaße gebrauchsunfähig liegt dieser bei 80 %. Umfangsvermehrungen und Fibrosen sollten erfasst und angegeben werden. In Puncto Erwerbstätigkeit würden zwei Beurteilungen abgegeben. Die A-Beurteilung beziehe sich auf die letzte ausgeübte Tätigkeit, die B-Beurteilung auf eine allgemeine Erwerbsfähigkeit.
Zum Abschluss der Veranstaltung gewährte die onkologische Krankenschwester Elisabeth Krull, Oberhaching, spannende Einblicke in den Praxisalltag zum Management von Ödemen in der Pflege und der Palliativ-Versorgung. In der ambulanten Behandlung spiele die Motivation eine entscheidende Rolle. Die Patientenedukation als neue fünfte Säule der komplexen physikalischen Entstauungstherapie (KPE) sei eine wichtige Aufgabe. Ein gutes Versorgungsnetzwerk erleichtere die Arbeit und könne die Versorgung der Patient*innen entscheidend verbessern. Gerade für Patient*innen mit langfristigen Erkrankungen sei ein zentraler Ansprechpartner ideal, um sektorenübergreifend die gesamte Versorgung zu koordinieren. In der Palliativsituation sei es wichtig, ein klares Therapieziel, zum Beispiel Fokus auf Symptomlinderung und Lebensqualität, zu definieren.
Die Veranstaltung überzeugte durch namhafte Referent*innen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Norwegen. Sie ließen den annähernd 350 in Präsenz und online Teilnehmenden den Lymphtag als praxisrelevante Fortbildung erleben. 2023 gab es nach zwei Jahren als reine Online-Veranstaltung erstmals wieder die Möglichkeit, sich vor Ort in Bochum zu treffen und zu vernetzen. Prof. Dr. med. Markus Stücker kündigte bereits den nächsten Bochumer Lymphtag am letzten Samstag im Januar 2024 an.
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