Sie sind im Alltag unsichtbar und dennoch unerlässlich. Standards und Normen leisten entscheidende Beiträge, damit aus technologischen Innovationen erfolgreiche Produkte oder Dienstleistungen für den Markt werden. Sie ermöglichen darüber hinaus die Systemfähigkeit der Technik und die Entwicklung kompatibler Produkte. In Medizin, Verkehr oder digitaler Kommunikation definieren Standards und Normen Mindestanforderungen an Qualität und Sicherheit. Sie garantieren Interoperabilität. Nicht nur deshalb genießen sie bei der Bevölkerung großes Vertrauen.
Dennoch sind viele Unternehmen und Forschungseinrichtungen zurückhaltend, wenn es darum geht, sich an den zugrundeliegenden Standardisierungs- und Normungsprozessen zu beteiligen oder entsprechenden Gremien beizutreten. Warum dies so ist und wie dies geändert werden kann, zeigt die aktuelle Studie der Fraunhofer-Gesellschaft »Relevanz der Normung und Standardisierung für Wissens- und Technologietransfer«. Durchgeführt wurde die Studie vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI aus Karlsruhe gemeinsam mit dem Fraunhofer-Zentrum für Internationales Management und Wissensökonomie IMW aus Leipzig. Die Autorinnen und Autoren der Studie haben ihre Erkenntnisse aus umfangreichen Recherchen sowie Interviews mit ausgewählten Unternehmen, Forschungseinrichtungen, Verbänden und Normungsorganisationen gewonnen. Zusätzlich zur Analyse der aktuellen Situation haben die Forschenden praktische Handlungsempfehlungen erarbeitet.
Prof. Ralf Wehrspohn, Vorstand Technologiemarketing und Geschäftsmodelle der Fraunhofer-Gesellschaft, unterstreicht die Bedeutung des Themas für die systematische Weiterentwicklung des Technologietransfers: »Standards und Normen sind ein Katalysator bei der Umsetzung von Technologien und Forschungsergebnissen in nützliche Produkte und gewinnen auch international immer mehr an Bedeutung. Hier liegt ein enormes Potenzial für viele Unternehmen und Forschungseinrichtungen.«
Darüber hinaus sind Standards und Normen ein wesentlicher Treiber der internationalen Wissensökonomie. Sie beschleunigen die Verbreitung von Wissen, Know-how und Innovationen über den ganzen Globus. Der internationale Aspekt wird auch von der OECD gewürdigt. Die Organisation hat 2018 Standards und Normen in das Portfolio der Indikatoren zur Innovationsmessung aufgenommen.
Warum Unternehmen sich zurückhalten
Die Studie zeigt die Ursachen auf, warum Organisationen sich bei Standardisierungs- und Normungsprozessen zurückhalten. »Eine Hauptursache ist fehlendes Normungs- und Standardisierungswissen in den Organisationen. Sowohl Unternehmen als auch Forschungseinrichtungen sind sich gar nicht bewusst, welchen enormen Mehrwert eine Beteiligung bietet«, erklärt Prof. Knut Blind vom Fraunhofer ISI, der gemeinsam mit Philipp Hermann vom Fraunhofer IMW die Projektleitung bei der Studie übernommen hat. Hinzu kommt, dass dieser Mehrwert häufig immateriell und schwer zu quantifizieren ist, obwohl er zum Erfolg des Unternehmens bzw. der Forschungsorganisation beiträgt. Viele befürchten auch, dass die eigene Beteiligung am Gemeinschaftsbeitrag für Außenstehende schwer erkennbar ist.
Demgegenüber berichten in der Studie befragte Organisationen, die aktiv an Standardisierungsprozessen oder in Normungsgremien mitwirken, immer wieder von positiven Erfahrungen. »Für die Fachleute aus Wirtschaft und Wissenschaft ist die Zusammenarbeit mit Experten aus anderen Organisationen extrem spannend. Unternehmen beispielsweise bekommen hier Kontakt zu künftigen Geschäftspartnern oder Kunden«, so Philipp Herrmann vom Fraunhofer IMW. Die Mitarbeit in einer entsprechenden Arbeitsgruppe können Unternehmen überdies dazu nutzen, die Spezifikationen des jeweiligen Standards an ihre Geschäftsinteressen und die bereits im Unternehmen vorhandenen Technologien anzupassen. Auch Forschungsorganisationen profitieren. »Wir Forscherinnen und Forscher erleben immer wieder, dass unsere Erkenntnisse erst dann als Produkt realisiert werden, wenn es gelungen ist, diese als Standard zu definieren«, erklärt Blind.
Das Engagement für Normen und Standards verspricht keine schnellen Gewinne, es ist strategisch angelegt. Es lohnt sich aber auf jeden Fall für alle Beteiligten. Wehrspohn verweist auch auf positive Effekte für die Gesellschaft insgesamt: »In den herausfordernden Zeiten des Klimawandels, der Corona-Pandemie und der Debatte um Fake News sind wir mehr denn je auf die Erkenntnisse der Wissenschaft angewiesen. Durch die Etablierung von Standards und Normen entstehen funktionierende Produkte, die gesellschaftlich akzeptiert sind. Und nichts beweist die Seriosität der Forschung besser als funktionierende Produkte mit gesellschaftlicher Akzeptanz.«
Die Handlungsempfehlungen der Studie
Die Fraunhofer Studie gibt schließlich Handlungsempfehlungen für Forschungseinrichtungen und Unternehmen. Eine Empfehlung lautet, zunächst eine grundlegende Strategie für Normung und Standardisierung zu entwickeln. Ebenso wichtig ist die Sensibilisierung und Qualifikation von Mitarbeitenden und Forschenden für die Bedeutung von Normung und Standardisierung. Sinnvoll wäre auch die Etablierung von Prozessen zur regelmäßigen Prüfung der hauseigenen Technologien auf ihre Eignung als Standard und die Benennung von Verantwortlichkeiten. Daneben empfiehlt die Studie ggf. Kooperationen mit anderen Unternehmen oder Forschergruppen in Betracht zu ziehen
Unverzichtbar: Publikationen und Patente
Eine Grundlage bei der Arbeit an neuen Standards oder Normen sind bereits bestehende Publikationen und Patente. Werden sie in der Dokumentation eines veröffentlichen Standards oder einer Norm referenziert, gelten sie als standardessentiell. Für die Experten-Community ist dann erkennbar, wer maßgebliche Erkenntnisse beigesteuert hat. Die Befürchtung vieler Unternehmen oder Forschungseinrichtungen, dass ihr Engagement keine Anerkennung einbringt, ist also letztlich unbegründet.
Norm oder Standard: Was ist der Unterschied?
Normung ist ein Prozess, bei dem Interessierte aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in einem Gremium gemeinsam eine konsensfähige Lösung zum Nutzen der Allgemeinheit erarbeiten. Beteiligt sind neben Forschenden und Fachleuten aus der Industrie auch staatliche Einrichtungen und Umweltverbände. Angenommen wird die Lösung schließlich von einer formellen Normungsinstitution wie DIN (Deutsches Institut für Normung e. V.) oder DKE (Deutsche Kommission Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik im DIN und VDE).
Bei der Entstehung eines Standards hingegen sind nicht notwendigerweise alle am Thema Interessierten beteiligt. Er kann im Einzelfall auch durch eine Kooperation von Unternehmen in einem temporären Gremium entstehen. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der Compact-Disc-Standard, den Sony und Philips/Polygram Anfang der achtziger Jahre gesetzt hatten.
Die Fraunhofer-Gesellschaft mit Sitz in Deutschland ist die weltweit führende Organisation für anwendungsorientierte Forschung. Mit ihrer Fokussierung auf zukunftsrelevante Schlüsseltechnologien sowie auf die Verwertung der Ergebnisse in Wirtschaft und Industr ie spielt sie eine zentrale Rolle im Innovationsprozess. Als Wegweiser und Impulsgeber für innovative Entwicklungen und wissenschaftliche Exzellenz wirkt sie mit an der Gestaltung unserer Gesellschaft und unserer Zukunft. Die 1949 gegründete Organisation betreibt in Deutschland derzeit 74 Institute und Forschungseinrichtungen. Rund 28 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, überwiegend mit natur- oder ingenieurwissenschaftlicher Ausbildung, erarbeiten das jährliche Forschungsvolumen von 2,8 Milliarden Euro. Davon fallen 2,3 Milliarden Euro auf den Leistungsbereich Vertragsforschung.
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