Menschen in Schubladen stecken oder eine Dreiklassengesellschaft bilden – was politisch und gesellschaftlich auf keinen Fall gewollt ist – muss manchmal sein, wenn es um die Prognose der Ausbreitung von Infektionen geht. Schon sehr lange beschäftigen sich Forschende mit der mathematischen Modellierung von Pandemien. Die erste Veröffentlichung dazu stammt aus dem Jahr 1766. Daniel Bernoulli entwickelte in seiner Abhandlung »Essai d’une nouvelle analyze de la mortalité causée par la petite vérole« ein mathematisches Modell, um die hohe Sterblichkeitsrate in England durch Pocken zu analysieren. Er konnte zeigen, dass Impfungen die Lebenserwartung für Neugeborene um durchschnittlich drei Jahre erhöhen.
Vor allem, wenn eine Infektionskrankheit neu auftritt, helfen mathematische Modelle, die wichtigsten beiden Fragen zu beantworten: Wie wird sich die Infektion ausbreiten und welche Maßnahmen zu ihrer Eindämmung sind angemessen und wirkungsvoll? Was 1766 begann, hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer eigenen Fachdisziplin, der mathematischen Epidemiologie, weiterentwickelt. Sie umfasst nicht nur die Entwicklung von Ausbreitungsmodellen basierend auf Differentialgleichungen, sondern auch die Forschung zu datengetriebenen, statistischen Analysen von Pandemien mit räumlicher und zeitlicher Auflösung. Machine Learning ist die neueste Disziplin, die zu einer verbesserten Modellierung und Simulation von Infektionsausbreitungen beiträgt.
ITWM verfeinert WHO-Modell zur Simulation der Covid-19-Ausbreitung
Das Fraunhofer ITWM erforscht derzeit aktiv die Covid-19-Ausbreitung in Deutschland. Dazu hat das mathematische Institut die bestehenden klassischen Modelle, die beispielsweise von der WHO diskutiert werden (siehe Website der WHO) verfeinert.
Genau wie bei den klassischen Modellen wird eine Population in verschiedene Klassen unterteilt. Bisher am häufigsten verwendet werden das Dreiklassenmodell SIR und das Vierklassenmodell SEIR. In beiden Modellen bezeichnet »S« die Gruppe der Menschen, die empfänglich (»susceptible«) für eine Infektion sind, weil sie z.B. nicht geimpft sind oder generell noch keine Antikörper gegen diese Infektion entwickelt haben. »I« beschreibt die Anzahl der Personen, die infektiös sind. Mit »R« bezeichnen wir die Gruppe, die zukünftig wegfallen (»removed«). Dabei wird nicht unterschieden, ob Menschen sich erholen und zukünftig immun sind oder versterben.
Im Vierklassenmodell kommt noch die Gruppe der Exponierten »E« hinzu. So werden Personen klassifiziert, die sich bereits mit dem Virus angesteckt haben, aber selbst noch nicht infektiös sind. Mit Hilfe von Differentialgleichungen werden nun die Übergänge von einer Klasse in die nächste Klasse berechnet und damit die Anzahl der erkrankten Menschen zu einem Zeitpunkt simuliert. Die Differentialgleichungen enthalten dabei Parameter wie z.B. die mittlere Erkrankungsdauer, die für jede Infektionskrankheit aus vorhandenen Daten ermittelt werden müssen und krankheitsspezifisch sind. Dem stehen politisch beeinflussbare Parameter entgegen wie z.B. die Basisreproduktionszahl. Die Basisreproduktionszahl gibt an, wie viele Menschen von einer infektiösen Person durchschnittlich angesteckt werden und dieser Parameter kann von einer Gesellschaft beeinflusst werden.
Retardierungseffekte erweitern Prognosemodell zur Ausbreitung von Covid-19
Bei den klassischen Modellen SIR und SEIR werden alle Modellparameter konstant gehalten, nachdem sie aus den Daten bestimmt wurden. Dies ist zum jetzigen Zeitpunkt für die Analyse von Covid-19 ein schwerer Nachteil. Gerade um die Wirkung der Lockdown-Maßnahmen zu analysieren und mögliche Exit-Strategien bewerten zu können, dürfen die Modellparameter nicht als zeitlich konstant erachtet werden.
Gleichzeitig muss ein adäquates Prognosemodell zur Ausbreitung von Covid-19 auch berücksichtigen, dass die Wirkung der Maßnahmen zeitlich verzögert, also retardiert auftritt. Das Fraunhofer ITWM hat daher ein klassisches SEIR-Modell um Retardierungseffekte erweitert, um früher als die klassischen Modelle verlässliche Ausbreitungsprognosen liefern zu können und somit die Analyse der Maßnahmen zu ermöglichen. Ein weiteres Manko der klassischen Modelle besteht darin, dass über alle Regionen und Altersgruppen hinweg eine homogene Dynamik der Epidemie angenommen wird. Dem stellt das Fraunhofer ITWM Kohorten mit jeweils eigenen Parametern und Austauschkoeffizienten entgegen. So wird es auch möglich, spezialisierte Maßnahmen zu bewerten, z.B. die Öffnung von Schulen oder gelockerte Kontaktbeschränkungen in dünn besiedelten, ländlichen Regionen.
Ausgehend von Parametern, die an öffentlich zugängliche Fallzahlen angepasst sind, werden in den ITWM-Forschungsarbeiten rund um die Wissenschaftler Dr. Jan Mohring und Dr. Raimund Wegener, erste Prognosen zu den Szenarien »Herdenimmunität« und »Ausrottung des Virus« präsentiert. In ihren Ergebnissen erläutern sie die beiden Szenarien und prognostizieren die Dauer sowie die Erfolgsaussichten der Szenarien.
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